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Urs im Wald

Verflixte Ziele

Schon lange habe ich aufgegeben, mir fixe Tagesziele beim Bauen zu setzen. Zu oft habe ich dabei meine Fähigkeiten überschätzt. Wenn ich dann nach einigen Stunden Arbeit mit nachlassenden Kräften unbedingt noch das anvisierte Ziel erreichen wollte, ging das nicht nur auf Kosten der Sicherheit, sondern auch auf Kosten der Gesundheit. Und eigentlich sollte ich am darauffolgenden Tag wieder fit sein, um die Arbeit wieder normal weiterführen zu können. Also lasse ich jetzt die Arbeit auch mal Mitten im Nachmittag stehen — ohne schlechtes Gewissen.

Nach einer langen Phase mit schlechtem Wetter lockte mich diese Woche mal wieder die Holzerei. Wobei nicht nur der Sonnenschein mich nach draussen „gepullt“, sondern mindestens so sehr mich der rapide schwindende Holzvorrat „gepusht“ hat… Also nichts wie los. Der Stinker zog eine saubere Spur durch den Schnee und brachte mich über alle Steigungen hoch und wieder hinunter zum Arbeitsplatz. Absterbende Eichen, denen durch den Pistenbau das Wasser abgegraben wurde, mussten weg, da immer wieder fallende dürre Äste den Durchgang unsicher machten. Nachdem gut ein Dutzend Bäume auf der Piste lagen, kam mir in den Sinn, dass es vielleicht doch weise wäre, mir ein Ziel für den Tag zu setzen. Denn wenn noch Bäume in dem Moment liegen blieben, wenn ich schon im Rücken müde würde, dann müsste ich anderntags mangels Umkehrplätzen einen Kilometer weit im Rückwärtsgang zum Holzerplatz fahren. Keine guten Aussichten. Knapp geschafft. Der Rücken! Und morgen werde ich zwei Ster Holz holen können. Für eine warme Stube im nächsten Winter ist somit gesorgt. Wobei dieses Ziel noch lange nicht erreicht ist, aber ein Anfang immerhin gemacht. Die Meteo verspricht zwei weitere Wochen mit sonnigem Winterwetter.

Fertig lustig

Kurz vor meiner Abreise in die Schweiz hat sich eine Wühlmaus aus dem Gemüsegarten in Richtung des Spargelbeets vorgearbeitet und jetzt dem Safran genähert. Alarm! Alle Versuche, mit den herkömmlichen Schnappfallen dem Ungetüm in der lehmignassen Erde habhaft zu werden, haben versagt. Obwohl am Verlauf der Grabarbeiten zu beobachten ist, dass das in der Erde verlegte Gitter den Zugang zu den kostbaren Knollen erst mal abgewehrt hat, greife ich zum ultimativen Mittel: Gift. Bio macht kurz mal Pause. Ich hoffe somit nach meiner Rückkehr in drei Wochen noch ein paar Blättchen Safran anzutreffen.

Die nächsten sieben

Das erste von sieben Fenstern, die das Atelier gegen aussen abdichten, ist im Rohbau fertig. Es soll vor allem verhindern, dass Vögel und Fledermäuse sich nicht so leicht in den Räumlichkeiten einnisten können und alles verkoten — oder werde ich etwa zu anspruchsvoll?

Von der Planung, dem Erstellen der Detailzeichnungen am alten Mac bis zu den Stücklisten habe ich langsam Übung und von den Erfahrungen der letzten acht Fenster des ersten Hauses kann ich profitieren. Immerhin bin ich froh, dass auch im zweiten Winter noch alle Fenster gleich gut funktionieren. Und anschliessend an diese Serie bleiben ja nur noch etwa zwölf Aussenfenster übrig. Und zwei grosse baies vitrées. Für Arbeit in den nächsten Wintern ist also gesorgt.

Ein Tag im Winterwald

Auf diesen Tag musste ich lange warten. Nach vielen regnerischen Tagen endlich schönes Wetter: beste Bedingungen, um im Wald zu arbeiten. Wer kümmert sich da (ausser ein paar Südfranzosen mit Sommerpneus auf den Felgen) um das bisschen Schnee, der die Piste bedeckt. Mit den fetten Spezialpneus klettert mein Stinker über alle Steigungen und Hindernisse.

Es liegt noch eine Birke am Boden, die ich vor drei Jahren gefällt habe und die dann Monsieur le Président (zusammen mit der kaputten Achillessehne) mich gehindert hat, zu holen. Sie liegt auf einer Parzelle, die offensichtlich vor einigen Jahrzehnten genutzt wurde und auf der sich nun ein dichter Jungwuchs entwickelt. Eschen, Eichen, Kirschbäume und Birken machen sich breit. Aber auffällig ist, dass sich auch noch etwa zwanzig junge Buchen mit ihrem Herbstlaub zeigen, obwohl im Umkreis von mehr als hundert Metern kein einziger Fruchtbaum anzutreffen ist. Nur zwei grössere Buchen stehen weit entfernt auf meinen Parzellen. Noch vor sechzig Jahren steuerte der Brennholzverkauf in die Stadt wesentlich zum Einkommen der Einheimischen bei. Mein 90-jähriger Nachbar Jean weiss auch noch, dass auf einigen Parzellen, auf denen nun Eichen als Stockwuchs stehen, Köhler am Werk waren. Energie kam dannzumal halt noch aus dem Wald. Heute aus Katar.

Ich werde den jungen Buchen möglichst viel Raum zur Entwicklung geben, um wieder einen standortgerechten Bestand zu erreichen. Das zwingt mich nun, mehr Föhren zu verheizen, die übermässig gepflanzt als schnellwüchsige Baumart bevorzugt wurden. Es stehen ein paar davon dürr am Pistenrand und drohen, umzustürzen. Leider ist die Wettervorhersage aber wieder schlecht.

Auf der Heimkehr bei Sonnenuntergang begrüsst mich der Vollmond am Horizont.

Zurück aus einer fremden Welt

Langstreckenflüge sind nicht mein Ding. Aber summa summarum haben sich zwischen diesen beiden Flügen so viele wunderbare Erinnerungen angesammelt, dass ich sagen muss: es hat sich gelohnt.

Kurz vor dem Rückflug hat mir Jerline noch ein Fläschchen mit Zuckerwasser mitgegeben. Dummerweise habe ich nicht daran gedacht, dass Flüssigkeiten im Handgepäck nur offen deklariert und beschränkt zugelassen sind. Prompt bin ich am Security Check hängen geblieben und mit einem gezielten Griff tief in meinen Rucksack hat der Officer das Gläschen ans Tageslicht befördert. Aber nach einer kurzen Rückfrage beim Vorgesetzten war alles wieder in Ordnung. Meine Nachlässigkeit wurde nicht geahndet. Ich kenne Vorkommnisse an europäischen Flughäfen, wo es anders gelaufen wäre. Das ist zwar eine kleine Anekdote, aber durchaus typisch für Singapur. Die Gesetze haben den Zweck, das Zusammenleben zu organisieren und nicht, um es zu komplizieren. Vor allem auch im Zusammenhang mit den Covid-Massnahmen und dem Immigrationsprozedere hat uns das sehr erstaunt.

In diesen Wochen sind zwei Themen in der Presse aufgetaucht, die den Ruf Singapurs, als Diktatur bezeichnet zu werden, bei uns mitbegründen: das Verbot der Homosexualität und die Todesstrafe. Unter dem Druck, dass das Oberste Gericht das Gesetzt kippen könnte, das Homosexualität unter Strafe stellt, ist die Politik dem zuvorgekommen. Gleichzeitig aber sind neue Gesetze in parlamentarischer Vorbereitung, die die Ehe als Verbindung von Mann und Frau definieren und die darauf begründete Familie staatlich schützen und fördern werden. Damit wird die Möglichkeit der Gerichte, nochmals mit Gleichheit zu argumentieren, verhindert. Liebe ist eben nicht gleich Liebe — zumindest noch in Singapur.

Bei der Todesstrafe ist die Diskussion von einem Tweet Richard Bransons lanciert worden. Der zuständige Minister hat Branson offeriert, in einem öffentlichen Rededuell anzutreten. Branson hat abgelehnt, da TV-Duelle der Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen seien. Der Minister hat diese Verweigerung als Eingeständnis fehlender Argumente gefeiert. Er stützt sich auf Umfragen, in denen die Bevölkerung Singapurs diese drakonische Strafform befürwortet. Es wird sich zeigen, ob die Generation von Nathan und Max dies immer noch so sehen wird.

Zurück zum Fläschchen mit Zuckerwasser. Natürlich besteht der Inhalt nicht nur aus Wasser mit Rock Sugar (kristallisiertem Rohrzucker). Die Inhaltsangabe zählt neben Stabilisatoren noch das Wesentliche auf: Bird‘s Nest.

Jerline wollte es Jacqueline erklären, um was es sich bei Bird’s Nest handelt. Weil es in der Liste der Einfuhr von Lebensmitteln auftaucht, war ich vorgewarnt. In der Kurzform erklärt: Mauersegler aus dem Asiatischen Raum bauen sich ausschliesslich mit Hilfe ihres Speichels, und nicht wie in Europa noch mit Lehm, Nester für die Brutpflege. Gereinigt und sterilisiert finden diese Nester dann in der chinesischen Küche Eingang als Suppenbeilage oder in Desserts. In meinem Fläschchen schwimmen sie als weissliche Flocken im Zuckerwasser.

Ich wollte diese Kostbarkeit, ein Kilo ist bis zu 6000 Dollar wert, nicht alleine geniessen und habe nach der Rückkehr in Basel sie mit der Mitbewohnerin von Jacqueline verköstigt: süss im Geschmack zwar, aber gleichzeitig auch ungewohnt, irgendwie nicht beschreibbar, kurz fremd.

Es sind all diese kleinen Erfahrungen, die den Kurztrip in eine andere Kultur so wertvoll gemacht haben. Ermöglicht durch eine vor ein paar Jahren in Zürich geschlossene Freundschaft: Danke Jerline, danke Ben. Und Dank auch an Jacqueline.