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Urs im Wald

Places to visit

Tripadvisor führt für Singapur 3205 Sehenswürdigkeiten in der Online-Liste auf. Gleichzeitig werden für einen Aufenthalt drei Tage oft als hinreichend geschildert. Für die Top 10 Sehenswürdigkeiten mag das ausreichen, obwohl vor dieser Art von Tourismus mir graut. Aber die Position Singapurs als Airhub für ganz Südostasien bringt es mit sich, dass Kurzaufenthalte zwischen zwei Flügen eingeplant werden können. Ich habe mich entschieden, für zwei Wochen zu bleiben.

Natürlich gibt das Gelegenheit, auch diese Sehenswürdigkeiten „mitzunehmen“: Marina Bay, Orchard Road, Little India, Sentosa Island, S.E.A. Aquarium, Tree Top Walk, Pulau Ubin, Botanic Gardens, Juwel im Changi Airport, Singapur Flyer, River Wonders, Cable Car und die Gardens by the Bay mit den Super Trees und dem Flower Dome. Alles bestens organisiert und unter kundiger einheimischer Führung erlebt.

Toll, das alles gesehen zu haben. Aber was mich wirklich interessiert, ist nicht das Bereisen eines Landes oder einer Stadt. Es ist das Bewohnen. Die Gelegenheit, eine fremde Kultur nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Froschperspektive kennenzulernen, hat diese zwei Wochen so wertvoll gemacht. Es sind die Situationen, die sich aus dem Alltag einer dort lebenden Familie ergeben, die es spannend machen: Klein Nathan in seinen Kindergarten zu begleiten, eine Geburtstagsfeier oder ein Abendessen mit der Familie Jerlines. Aber auch die verschiedenen Restaurantbesuche waren eindrucksvoll. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sonst ein Tourist diese Breite an kulinarischen Genüssen aus ganz Asien erleben könnte. Und wer würde es wagen, im wohl teuersten Hotel Singapurs, dem Raffles, in der Grand Lobby einen Afternoon Tea mit Champagner zu buchen? Auch klein Max hat es gefallen.

Natur pur ?

Da sich der ganze Stadtstaat Singapurs sich als „City in Nature“ sehen will, werden überall mit grossem Eifer Pflanzungen in die neu erstellten Siedlungsstrukturen eingeplant. Selbst auf den sechs- oder achtspurigen Autobahnen fahrend erhält man den Eindruck, eine Parklandschaft zu durchqueren. Viele Hochbauten sind mit begrünten Fassaden versehen oder es wuchern auf Zwischenetagen in luftiger Höhe tropische Gärten.

Im feuchtheissen Klima nahe beim Äquator gedeihen so in phantastischer Vielfalt Pflanzen aus aller Welt. Das Prunkstück dieser Gartenkultur stellt der Botanische Garten dar. Auf einer Fläche von beinahe einem Quadratkilometer werden tausende Pflanzenarten in thematischer Gliederung präsentiert. Ich stelle mir vor, dass keine Baumart des tropischen Gürtels der Erde hier fehlt. Jede Ecke scheint einem strengen Management und wissenschaftlicher Kontrolle zu unterliegen. Immer wieder wird in der Beschilderung auf die Bedeutung natürlicher Ressourcen und deren Schutz hingewiesen.

Aber irgendwie staute sich in mir beim Lustwandeln durch diese Zauberwelt zunehmend ein Gefühl der Fremdheit auf. Es würde möglicherweise niemandem auffallen, wenn diese ganze Pracht aus lauter Plastik geschaffen worden wäre. Zu gut können heute Pflanzen imitiert werden. Wer hat nicht schon mit der Hand an Pflanzen greifen müssen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht echt sind.

Dieses Gefühl, eine künstliche Natur geschaffen zu haben, muss auch mal den Parkgestaltern aufgekommen sein. Nur durch Zufall entdeckt man beim Durchwandern ein Schild, das auf Natur „in echt“ hinweist. Auf einer winzigen Fläche von 110 Quadratmetern wird seit 5 Jahren eine ehemalige Rasenfläche nicht mehr regelmässig gemäht und der natürlichen Entwicklung überlassen. Mit wenigen Eingriffen wird verhindert, dass die Fläche offen bleibt und nicht zu einem Wald zuwächst. Es lohnt sich, diesen Text ganz zu lesen, aber der Satz „… Such lightly-maintained greenery has value for connecting people with nature…“ degradiert den ganzen restlichen Park zur künstlichen Inszenierung.

Damit das nicht als masslose Übertreibung meinerseits stehen bleibt, erwähne ich hier die Anekdote, dass klein Nathan schon aufgefordert wurde, Pflanzen nicht zu berühren, um sich nicht schmutzig zu machen. Es gibt in Singapur halt keine Waldschulen. Hier hätten die Verantwortlichen des Natural Park Boards eine lohnende Bildungsaufgabe zu übernehmen. Verschiedene, grosse und naturnahe Flächen bis hin zu Primärwäldern böten sich dafür noch genug an. Wenn wie gesehen Teenies in ihren Schuluniformen einmal durch einen Parkwald gelotst werden, funktioniert die Kontaktaufnahme mit „Natur pur“ nicht mehr. Die Uniform muss ja sauber bleiben.

Es ist alles anders und gleichzeitig ist alles gleich

Gesellschaften, die sich hin zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, gleichen sich, getrieben durch die Globalisierung, in vielen Bereichen. So fällt es leicht, sich von einer in die andere zu bewegen. Unterschiede aber bleiben, so auch in der Kulinarik. So ist zum Beispiel ein Fondue chinoise nicht gleich einem Fondue à la chinoise. Das Original hat eine viel reichere Struktur, ist kein „Fondue“ und nennt sich deshalb auch anders: hot pot.

Zuerst stehen bei uns in Singapur einmal zwei verschiedene Bouillons zur Auswahl. Eine für Vegetarier, die andere für Karnivoren. Eine Vielzahl von Zutaten machen den Sud sehr geschmackvoll. Das Hühnerfleisch im Bouillon der Fleischesser dient im Gegensatz zur Schweizer Variante nur als Geschmacksnote und wird nicht gegessen. Allerlei Gemüse wird nun mitgekocht und dann mit den sehr dünn geschnittenen, à-la-minute gekochten Fleischstücken genossen: Schaf, Rind und Schwein. Eine reiche Auswahl an Saucen und Beilagen bilden die Spitze der Genusspyramide. Wie immer bevorzuge ich nun nach dieser Erfahrung das Original.

Was man am Fondue chinoise erkennen kann, kann man vergleichend auf meine beiden gerade erlebten Welten immer anwenden. Es ist jeweils ganz anders, und doch immer auch irgendwie gleich.

Diktatur, easy made

Wenn klein Nathan in der Untergrundbahn nicht sofort auch eine Maske verpasst bekommt, fordert er sie mit Nachdruck ein. Das urmenschliche Bedürfnis, dazu zu gehören, nicht ein Sonderfall zu sein, macht es für grosse und kleine Diktatoren leicht, einmal durchgesetzte Massnahmen aufrechtzuerhalten. Allerdings sollten diese einen Sinn ergeben, gut begründet und konsistent sein und immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Sind sie nicht mehr angebracht, dient es der Sache, sie sofort anzupassen oder ganz fallen zu lassen.

Das wird hier geradezu beispielhaft vorexerziert. Im ÖV gilt noch die Maskenpflicht und nachlässige Passagiere werden sofort und bestimmt angesprochen. Bei der Einreise wurde unser Impfstatus demonstrativ nicht mehr kontrolliert, da dies beim Check-In schon in der Schweiz passierte. Im Strassenverkehr gelten Regeln, aber wenn sie offensichtlich obsolet sind, werden sie einfach ignoriert. Das heisst, Regeln, Gesetzte, sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Gesellschaft zu einem friedlichen Miteinander.

Dass für eine grosse Anzahl arbeitender Menschen als „Fremdarbeiter“ eigene Regeln erstellt und so eine formelle Zweiklassengesellschaft geschaffen wurde, kann nicht übersehen werden. Hinten auf der Pritsche der kleinen Baustellentrucks klebt links ein Schild mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit des Trucks, rechts eine Zahl, zum Beispiel „12 Pax“: es dürfen zusätzlich zum Baumaterial maximal 12 Personen — workers — geladen werden…

Ganz abgesehen davon, dass auch in freieren Gesellschaften für Arbeitnehmer Gesetze nicht nur zu deren Schutz bestehen, sondern je nach Status sie auch zu Objekten der „Ausbeutung“ machen: es gibt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit noch viel zu tun. Nicht allen wird wie klein Nathan zugestanden, dazuzugehören. Noch sind wir nicht alle gleich.

Gebeamt

Da sind wir. In einer anderen Welt. Mit anderer Kultur. Und wenn Hitachi sich freut, Mitte Oktober die ganze Orchard Road in Singapur mit Weihnachtsdekoration ausschmücken zu dürfen, dann muss sich definitiv etwas in meinem Leben geändert haben. Für zwei Wochen versuche ich das nun zu ergründen. Zusammen mit Jacqueline und kompetent geführt durch meine eurasische Familie vor Ort lebend. Auf geht‘s.